Historisch bedeutsamer (und bleibender) als die „Europäerpolitik" auf Samoa war das durch den ersten deutschen Gouverneur prägend gestaltete Leben der Samoaner unter dem Vorzeichen einer zunehmend europäisierten, „verwestlichten" Welt. Mit dem letzten Präsidenten des internationalen, d.h. westeuropäisch-amerikanisch bestimmten Munizipalrates von Apia, Wilhelm Solf, hatte Deutschland einen Mann zum ersten Gouverneur des kolonialen Samoa ernannt, der über umfassende koloniale Kenntnisse und internationale Erfahrungen verfügte. Solf war ein ungewöhnlich willensstarker Mensch, und seine Ansichten waren weit weniger als dies üblicherweise der Fall ist, vom Geist der Zeit beeinflußt - eher schon wirkte der so unakademisch agierende Orientalist und Indologe auf diesen ein. Solfs Grundanschauung, daß die Samoaner mit Hilfe der deutschen, d.h. zunächst fast ausschließlich seiner Verwaltung, gegen die von ihm sehr kritisch gesehenen Einflüsse aus Europa und Nordamerika zu schützen waren, daß zwar ihre staatliche Organisation zu verwestlichen, zu „modernisieren" sei, aber daß ihre soziale Grundstruktur nach Möglichkeit zu erhalten sei, wurde zum anderen Charakteristikum der deutschen Verwaltung Samoas. Um es vorwegzunehmen, die Umsetzung dieser Anschauung ist Solf und seinem Nachfolger, Erich Schultz (-Ewerth), der als Gouverneur ausgewählt wurde, weil er hinreichend Gewähr dafür bot, Solfs Leitlinien zu perpetuieren, gelungen.
Wenn sonach die alte staatliche Organisation der Samoaner als kulturschädlich
zerstört zu werden verdient, so muss andererseits die damit vielfach
eng verknüpfte soziale Verfassung tunlichst geschont werden. Auch
sie eilt in einem natürlichen Entwickelungsprozess, der durch den
dauernden Einfluss der europäischen Kultur noch befördert wird,
dem Zerfall entgegen. Die Verwaltung muss jedoch darauf bedacht sein, die
Periode der Uebergangs vom Collectivismus zum Individualismus in die Länge
zu ziehen, damit der Samoaner nicht auf eigene Füsse gestellt wird,
ehe er nicht gelernt hat, allein zu stehen.
Gouverneur Dr. Erich Schultz im letzten deutschen Jahresbericht für
Samoa 1913/14
NZA: AGCA 6051/0306
Eine durchaus nicht konservative, aber doch konservierende deutsche
Politik hat dafür gesorgt, daß das westliche Samoa - im auffälligen
Kontrast zum östlichen Teil des Archipels - indigene Traditionen in
eine globalisierte Weltgesellschaft in einem Maße hinübergerettet
hat, die es von den vergleichbaren und benachbarten Südseekulturen
bis heute deutlich abheben läßt. Solf gelang faktisch in Samoa
die Umsetzung der Vorstellung eines Eingeborenenreservates, das von vielen
Völkerkundlern der Zeit propagiert wurde. Sicherlich, es gab in diesem
Refugium der Traditionen Ausnahmen und auch gegenläufige Entwicklungen.
Zu den Tabuzonen für Samoaner gehörte an erster Stelle der Dominat
der deutschen Kolonialherrschaft an sich, dann die weitgehend als Europäerzone
interpretierte und mit einem speziellen Recht versehene Hafenstadt Apia
mit ihrem dazugehörigen (klar umgrenzten und definierten) Umland.
Zu den gegenläufigen Entwicklungen, die auch der Gouverneur nur in
geringem Maße steuern konnte, gehörte die Tendenz vieler Samoaner,
ins benachbarte amerikanische Samoa abzuwandern. Auffälligerweise
strömte ein beachtlicher Teil der Samoaner gerade dorthin, wo die
eigenen Traditionen immer weniger, dafür aber das Westliche, das europäisch-Globale
zunehmend stärker akzentuiert wurden. Trotz Paßvorschriften
und finanziellen und medizinischen Prämissen war der Bevölkerungsaustausch
zwischen den beiden Samoa unter verschiedener Kolonialherrschaft nicht
nur beträchtlich (1908-1910 insgesamt 3.546, 1911 bis Ende Juni 1914
sogar 6.504 Personen; nur Samoaner sind berücksichtigt), sondern es
wanderten nach 1910 nahezu 1.000 mehr Samoaner und Samoanerinnen nach Tutuila
ab, als von dort ins deutsche Samoa zurückkehrten. Für Schultz
lag die Vermutung nahe, „dass es vielen Samoanern unter amerikanischer
Herrschaft besser gefällt als unter deutscher". Daß es nicht
allein am amerikanischen Regierungsstil - Schultz dachte konkret an eine
in „seinem" Samoa befürchtete Anhebung der Kopfsteuer - lag, darauf
deuteten auch die starken Abwanderungsbewegungen innerhalb des deutschen
Samoa hin. Alle in deutscher Zeit durchgeführten Zählungen belegen,
daß der von westlichem Einfluß
Die einheimische Bevölkerung Samoas
Datum der Zählung Samoaner insgesamt davon in Upolu
Savai’i Manono und Apolima
15.08.-15.10.1900 32.620 1 17.560 14.022 1.038
Juli - Sept. 1902 32.612 18.341 13.201 1.070
01.10.1906 33.478 20.662 2 12.816
01.10.1911 33.554 21.182 2 12.372
1 Angegeben sind 32.815. Dies ist jedoch offensichtlich ein Fehler,
da in der Zählung 195 nichtsamoanische Südseeinsulaner enthalten
sind. 2 Einschließlich von Manono und Apolima.
unberührte Teil Samoas, die Insel Savai’i, kontinuierlich an Bevölkerung
verlor. Offensichtlich übte das europäisierte Upolu, und hier
besonders Apia, auch auf „traditionelle" Samoaner eine große Anziehungskraft
aus. Und dies trotz der Tatsache, daß Samoaner zur Arbeitsleistung
in europäischen Unternehmen weder angehalten wurden, noch selbst in
größerem Maße um eine solche Beschäftigung nachsuchten,
ein wichtiger Umstand, auf den noch zurückzukommen sein wird. Ende
1913 schien dem Gouvernement jedenfalls trotz der bewußt - auch gegen
Widerstände im eigenen Lager - durchgeführten und durchgesetzten
„konservierenden" Kolonialpolitik die „Eigenart" der Samoaner derart gefährdet,
daß es auf Anfrage des Kolonialamtes nach möglichen Naturreservaten
nicht nur den Lanutoo-See mit den umliegenden Wäldern (aus ökologischen
Gründen) und den Matavanu-Krater auf Savai’i (aus wissenschaftlichen
Gründen) als besonders schützenswerte Naturdenkmäler empfahl,
sondern ausdrücklich anregte, auch den nordöstlichen Teil der
Insel Upolu einschließlich der vorgelagerten Inseln, Nam’ua, Nu’utele,
Nu’ulua und Fanuatapu, schließlich auch die viel bedeutendere Insel
Apolima im Westen, zu Reservaten und Naturschutzparken zu erklären,
weil, wie Schultz ausführte, Upolu viel eher als Savai’i in Gefahr
sei, „von seiner Ursprünglichkeit einzubüssen".
Zu den originär von Solf zum Schutz der Samoaner vor Europäern
und deren Praktiken beschlossenen Maßnahmen gehören u.a. das
Verbot von Glücksspielen unter Samoanern (gegen-über den Chinesen
auf Samoa war die Verwaltung trotz mehrfacher Aufforderung der chinesischen
Regierung in dieser Hinsicht viel nachgiebiger), das Verbot des Schuldenmachens
der Samoaner und das Verbot des Kreditgebens an diese, schließlich
das überall in der deutschen Südsee bestehende - und durchgesetzte
- Verbot des Alkohol- und Waffenverkaufs an die einheimische Bevölkerung.
Auch die (europäische) Einwanderungspolitik wurde vom deutschen
Gouvernement mit Bedacht sehr restriktiv gehandhabt. Solf wollte möglichst
wenig Europäer - die sich offiziell „Fremde" nennen lassen mußten
- auf Samoa und schon gar keine Verbindung zwischen ihnen und den Samoanern.
Wenn schon Europäer ins Land kamen, dann sollten es weiße Frauen
sein, damit die europäischen Männer von der Vorstellung, sich
auch verwandtschaftlich näher an Samoa zu binden und dieses zu ihrer
wirklichen Heimat zu machen, möglichst abgehalten wurden. Jeder potentielle
Einwanderer war gezwungen, vorab 500 Mark Kaution zu hinterlegen. Gelegentlich
wurden Europäer auch des Landes verwiesen.
Zu den wichtigsten, von Solf amtlich privilegierten samoanischen Reservatrechten
gehörten die generelle Befreiung der Samoaner von europäischer
Arbeitsleistung, die Solf im Anschluß an ein Bittgesuch der samoanischen
Oligarchie dekretierte, und ein weitgehender Schutz des
Mulinuu, Maota o le Alii Sili, 25. Juni 1903
... unsere Gewohnheit ist, daß Niemand auf diesen Inseln knechtische Arbeit verrichte. Wir sind von klein auf in vollständiger Freiheit aufgewachsen und jeder kann arbeiten oder schlafen wie es ihm beliebt, weil unsere Mutter Erde durch ihre große Fruchtbarkeit uns alle Nahrungsmittel liefert. Wir sind auch stolz auf unsere samoanische Bekleidung, wie wir uns denn immer noch vor dem Anziehen von Beinkleidern und Stiefeln scheuen. Es ist ja richtig, das die Samoaner sehr kräftige Arbeiter sind, aber es ist gegen unsere Sitte, daß ein Samoaner sklavische Arbeit verrichtet. ...
T. (Tuiatua?) T. (Tupua?) M. (Mataafa) F. (Faifeau) Le Alii Sili
o Samoa
Saipaia, Tupua, Fa’alata, Tamasese, Tuimalealiifano, O Taimua
Maofa’ano#, Antagavaia, Sagapolutele, Fa’aususu,
Molio’o, Asiata, Leiataua, Laufa#, Tufuga, Tuliatu,
Fata#, Lemana, Gale, Fiame#, Lauaki, Pau, Fue, Vala O Faipule
Petition der samoanischen Oberhäuptlinge, Gouverneur Solf möge
die Samoaner vor Arbeitsdiensten bei Europäern schützen. Übersetzung
Schl. [Schultz] 17.07.1903
NML: VIII.13 Bd.3
samoanischen Landes vor dem Zugriff von Europäern. In der Landfrage
bildete der „Pflanzungs-bezirk" Apia wiederum die behördlich verordnete
Ausnahme von der Regel.
Die ausdrückliche, behördlich sanktionierte Freistellung
der einheimischen Bevölkerung von einer Arbeitsleistung im kolonialen
System ist einer der vorstechendsten Punkte, die das deutsche Samoa von
den übrigen deutschen und den Kolonien anderer Mächte auszeichnet.
In der Südsee findet sich Vergleichbares nur im britischen Fidschi
und im deutschen Nauru, in beiden Fällen jedoch verbunden mit erheblichen
Eingriffen in die indigene Verfügungsgewalt über das Land. Ansonsten
herrschten in europäischen Kolonialgesellschaften Verhältnisse
vor, in denen die Lokalbevölkerung entweder zur Arbeit direkt gezwungen
wurde oder aber ein kolonialwirtschaftlicher Zwang zur Arbeit indirekt
so ausgeübt wurde, daß sich zwar nicht offiziell, aber doch
de facto ein System etablierte, welches sich von staatlich angeordneten
Arbeitszwang kaum noch unterschied.
Die Freistellung der Samoaner von der Arbeit bei europäischen
Unternehmern bedeutete nicht, daß es auf Samoa keine samoanischen
Arbeiter gegeben hätte. Samoaner arbeiteten natürlich auf ihren
eigenen Dorfplantagen. Während der Erntesaison verdingten sich manche
durchaus auch bei europäischen Firmen. Da diese Arbeit jedoch unter
anderen Vorzeichen stand als etwa die mehr oder weniger erzwungene der
melanesischen Männer auf Neuguinea, war der Lohn eines samoanischen
Tagelöhners entsprechend höher. Samoaner, die für Buschrodungsarbeiten
auf europäischen Pflanzungen gewonnen werden konnten, verdienten um
1907 in Akkordarbeit zwischen 2,50 und vier Mark täglich bei freier
Verpflegung. Samoaner, die sich von der Regierung zum Straßenbau
anwerben ließen, erhielten zur gleichen Zeit zwischen 2,50 und drei
Mark pro Tag. Dies schloß die Verpflegung nicht ein, war aber immer
noch fast sechsmal mehr als das, was jene Chinesen erhielten, die zur gleichen
Arbeit eingesetzt wurden. Um 1910 war der Mindestlohn für samoanische
Wegebauarbeiter auf 2,75 Mark am Tag gestiegen.
Zur Klärung der diffizilen Eigentumsverhältnisse an Grund
und Boden und der vielen divergierenden individuellen Landansprüche
von Europäern setzte die Verwaltung auf europäische Methoden
und samoanische Traditionen gleichermaßen. Zum einen wurde in Samoa
systematisch das Land vermessen und ab dem 1. August 1903 nach deutschem
Muster Grundbücher angelegt, die die unzuverlässigen, auf eine
Bestimmung des Berliner Vertrages zurückgehenden „Samoan Land Records"
ersetzten. Zum andern setzte der Gouverneur Anfang 1903 eine besondere
Kommission ein, in die Spezialisten aus beiden Kulturen berufen wurden:
Zur sogenannten „Land- und Titelkommission" gehörten Sachverständige
für europäisches Recht und einheimische Experten für samoanische
Konventionen und Regularien. Der Kommission selbst und ihren Mitgliedern
hatte der Gouverneur „nur einige wenige Normen für das Verfahren vorgeschrieben
... im übrigen ist ihr ... jedes Mittel zur Erforschung der Wahrheit
und zur Bildung ihrer Überzeugung gestattet" - ähnliche Freiheiten,
wie sie Solf auch Williams zur Verwaltung der Insel Savai’i genehmigte.
Die Land- und Titelkommission, ihre Arbeitsweise und ihre „Urteile"
können mit juristischen Kategorien nicht hinreichend erfaßt
werden. Gerade das Fehlen eines rechtlich eindeutigen und bindenden Verfahrens,
auch äußerliche Widersprüche und Ungereimtheiten in der
Vorgehensweise und Entscheidungsfindung, ermöglichten Freiräume,
die die Grundvoraussetzung für die innersamoanische Akzeptanz der
gemischt besetzten europäisch-indigenen Institution bildeten. Dabei
spielte es keine Rolle, daß den samoanischen Ali’i Komisi formal
gesehen nur ein beratendes Stimmrecht zukam. Die Intention Solfs, damit
die am heftigsten umstrittenen Probleme Samoas - Land- und Titelfragen
eben - aus der Nähe zur bisher von Europäern und Samoanern praktizierten
Selbstjustiz, im schlimmsten Falle dem Bürgerkrieg, zu entfernen,
war erfolgreich. Ich kann nur wiederholen, was ich bereits früher
in diesem Zusammenhang gesagt habe: Die Land- und Titelkommission war eine
der maßgeblichsten Pfeiler, die dazu betrugen, traditionelle samoanische
Werte in einer zunehmend von europäischen Sichtweisen bestimmten Welt
zu konservieren und abzusichern.
Auch die von Solf umgehend nach der deutschen Flaggenhissung inaugurierte
samoanische Selbstverwaltung ist ein Alptraum für Juristen, wurde
hier doch ein Raum geschaffen, in dem das offiziell auch in Samoa geltende
deutsche Recht nur bedingt gültig war. Solfs Grundüberzeugung,
daß „die Samoaner anders denken und fühlen als wir, dass sie
deswegen anders behandelt werden müssen und vor Allem, dass es eine
Widersinnigkeit ist, unsere Strafgesetze und unser Strafverfahren gegen
sie anzuwenden", galt eben nicht nur für das deutsche Strafrecht.
Auch in dem Bereich, den die Juristen Zivilrecht nennen, gab es mannigfaltige
Ausnahmen und Sonderregelungen, die deutschen Gesetzen und Verordnungen
zum Teil geradezu diametral entgegengesetzt waren. Zwar bemühte sich
das Kolonialamt um eine möglichst europäer-rechtlich einwandfrei
erscheinende Vorgehensweise und Begründung in den deutschen Kolonien,
erstrebte auch eine gewisse Einheitlichkeit in dem dort praktizierten Verfahren,
aber der Kern der Solfschen Maxime blieb dabei doch auch von Berlin unangetastet.
Und so ist es kein Zufall, sondern symptomatisch, daß nicht irgendein
weltfremder Ministerialbürokrat zum letzten deutschen Kolonialstaatssekretär
vor dem Kriege ernannt wurde, sondern der Gouverneur der kleinsten deutschen
Kolonie, der zwar nur ein juristisches Zweitstudium vorweisen konnte, aber
unter allen deutschen Kolonialbeamten unumstritten als der beste und intimste
Kenner einheimischer Kulturen angesehen wurde.
Daß man mit einer buchstabengetreuen Umsetzung des deutschen
Rechts in einer fremden Umwelt nur Unrecht erzeugen würde, war eine
Auffassung, die von vielen deutschen Kolonialbeamten geteilt wurde. Im
gesamten deutschen Bereich der Südsee herrschte in dieser Frage
Eine neue, fremdem Boden entsprossene Kultur trifft, zum Heil oder
Unheil der Eingeborenen, ich lasse die Frage offen, mit Zuständen
zusammen, die uns vielleicht verbesserungsbedürftig erscheinen mögen,
aber durch das Alter geheiligt sind und jedenfalls ihre Opfer in mancher
Hinsicht mehr befriedigten als jene neue, ihrem Wesen fremde Kultur. Diese
Kultur mit ihren neuen Rechtsbegriffen setzt sich aber wohl oder übel
durch, sie wirkt zunächst auflösend auf das Alte, ohne sogleich
Neues an seine Stelle zu setzen.
In einem solchen Zustande des Uebergangs befinden sich die Rechtsbegriffe
der Eingeborenen wohl in allen unseren Kolonien, jedenfalls in der Südsee.
In einer Uebergangszeit aber sollten Rechtsbegriffe, die im Schwinden oder
in der Umbildung oder im Werden begriffen sind, nicht in Paragraphen gezwängt
werden. Selbst die Form der Rechtspflege bedarf in einer solchen Zeit grösseren
Spielraums. Der Richter, der unter Anlehnung an die heimische Gesetzgebung
aber unter möglichster Rücksicht auf die lokalen Rechtsbegriffe,
also nicht nach Paragrafen, sondern nach seinem Gewissen urteilen muss,
bedarf einer patriarchalisch unabhängigen Stellung.
Paragrafen, die ihrem Wesen nach verallgemeinern und den besonderen
Einzelfällen, aus denen die Wirklichkeit sich zusammensetzt, nicht
gerecht werden können, werden die Garantien für eine gerechte
Behandlung der Eingeborenen nicht vermehren, wohl mit Sicherheit aber zu
Unbilligkeiten führen. Diese Gewähr beruht im Wesentlichen und
muss beruhen auf der Person des Richters und leitenden Beamten, die Kontrolle
übt eine nicht immer wohlwollende öffentliche Kritik in hinreichendem
Maasse aus.
Der Bezirksamtmann von Ponape, Fritz, am 01.04.1909 in einer 50seitigen
Denkschrift, „Sitten und Rechtsanschauungen der Eingeborenen in den Karolinen,
insbesondere in Ponape"
BA: RKolA 5010
Einigkeit. Ähnliches läßt sich aber sogar für
Teile des deutschen Afrika feststellen. Bezeichnend ist etwa der Runderlaß
des Gouverneurs Graf Zech von Togo vom 11. Februar 1907 an sämtliche
Bezirksämter und Stationen. Hinsichtlich der Ahndung der Straftaten
von Einheimischen hieß es da, daß „die Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches
und der übrigen Reichsgesetze nicht ohne weiteres auf die Eingeborenen
angewandt werden können". Keine Frage, fundamentale europäisch-deutsche
Rechts- und vor allem Unrechtsvorstellungen wollte die deutsche Kolonialverwaltung
in Afrika wie in der Südsee möglichst rasch und potentiell überall
implantieren; der Rückruf auf europäisch-deutsche Buchstaben
und Paragraphen erwies sich dabei allerdings eher als kontraproduktiv.
„Belehrend" und „erziehend" wollte man vorgehen. Dies schuf Räume,
die in der Nachschau rechtlich nebulös und fragwürdig aussehen
mögen. Der Freiraum, den die deutsche Kolonialverwaltung vor Ort für
sich reklamierte und bewußt schuf, war aber notwendig, um eine Akzeptanz
deutscher Vorgehensweisen erst herzustellen.
Ziemlich sicher unterscheidet sich diese - zumindest in der Südsee
- stärker an den Umständen vor Ort ausgerichtete deutsche „Lokalmethode"
von der Praxis anderer europäischer Nationen, die im selben Raum kolonisierten
und die, das muß man wohl so sagen, in ihrer Politik viel intensiver
von Entscheidungen und Vorgaben der Metropole beeinflußt worden sind.
Warum das so war, kann hier nicht erörtert werden, daß Samoa
durch Solfs Maßnahmen und Entscheidungen aber geradezu zum Paradebeispiel
der deutschen kolonialen „Lokalmethode" wurde, gehört sozusagen zum
historischen Grundwissen über das Samoa der deutschen Kolonialzeit.
Zweifellos verfügte Solf über eine außergewöhnliche
Fähigkeit, sich in die Vorstellungswelt einer anderen, nichteuropäisch
bestimmten Kultur hineinzuversetzen. Auch besaß er Samoanern gegenüber
ein Maß an Toleranz, das vielen Nachgeborenen Respekt, ja Bewunderung
abnötigt. Aber selbstverständlich blieb auch der erste deutsche
Gouverneur Samoas nicht völlig unbeein-
DIE EINGEBORENEN
In einer Kolonie, in der die Eingeborenen 98 % der gesamten Bevölkerung
ausmachen, ist die Eingeborenen-Frage die wichtigste und wird deswegen
als erster Abschnitt dieses Decennial-Programms behandelt.
Grund- und Leitsatz für die Behandlung der Samoaner ist: „Der
Samoaner lässt sich leiten, aber nicht zwingen!" Nachdem das samoanische
Volk sich mit der Tatsache abgefunden hat, dass eine weisse Macht die Oberherrschaft
hat - dass es Deutschland ist, ist für die Samoaner ein Zufall - betrachten
sie den Gouverneur in ihrer patriarchalischen Auffassung als ihren Tama#,
als ihren Vater. Sehen die Samoaner, dass der Gouverneur Herz für
sie hat, dass er sie leiten und nicht unterdrücken will, haben sie
zu ihrem Leiter einmal Vertrauen gefasst, so gehorchen sie ihm und räumen
ihm mehr Machtbefugnisse ein, als je einer civilisierten Nation einfallen
würde, ihren Staatsmännern zuzugestehen. Deswegen wäre es
falsch von der Regierung, die Kompetenzen die der Gouverneur freiwillig
von den Samoanern erhalten hat, durch Gesetze und Instruktionen von oben
zu beschneiden. Solange die Samoaner ihrem Gouverneur Vertrauen schenken,
soll es auch die Regierung tun. Macht der Gouverneur Torheiten, zeigt er
sich unschlüssig, fängt er an die Samoaner falsch zu behandeln,
zu streng oder zu milde oder ungerecht, so wird das samoanische Volk schnell
reagieren und die Regierung in Berlin wird zeitig genug sehen, wann sie
einzuschreiten hat.
Damit ist im Allgemeinen die Stellung der deutschen Regierung den Samoanern
gegenüber gekennzeichnet.
Was das Programm im Einzelnen anbetrifft, so kann ich nur vorschlagen,
so fortzufahren, wie seit der Flaggenhissung gearbeitet worden ist.
GESETZGEBUNG
Die Sitten, Gewohnheiten und Rechtsverhältnisse der Samoaner müssen
weiter eingehend studiert werden. Das was gut ist, wird beibehalten und
allmählich übergeleitet und veramalganniert mit unseren Formen
und Anschauungen. Das Schlechte, Barbarische und Dumme wird ausgemerzt.
Erst wenn man kennen gelernt hat, was dem Samoaner lieb und wert ist,
was ihm heilig oder profan gilt, was er für dumm und klug hält,
was ihm gut und böse dünkt, warum er dieses als wichtig, jenes
als Lappalie auffasst, erst dann versteht man seine Gedanken und erst dann
kann man den Argumenten seiner Logik begegnen. Ungebildete Leute, also
das Gros der weissen Ansiedler, werden sich immer schlecht mit den Eingeborenen
stehen, weil sie sich in fremde Gedankengänge nicht hineinfinden können
und weil sie den Eingeborenen lediglich als corpus vile für ihre Erwerbsabsichten
ansehen. Daher bloody Kanaka, dieser verfluchte Nigger!
In Leulumoega war vor 6 Jahren ein förmlicher Aufstand, weil ein
gewöhnlicher Samoaner die Schale einer Schildkröte an einen Mischlings-Händler
geschenkt hatte. - Bei einem Taalolo (ceremonielle Essens-Darbringung an
einen Häuptling) entsteht eine Prügelei, weil unter den Körben
mit Essen einer mit Steinen angefüllt war. -
Zwei Familien in einer Ortschaft haben jahrelang Streit darüber,
welche von ihnen das Recht hat, ihre Ehrenjungfrau beim Tanz den Kopfschmuck
tragen zu lassen. Wer solche Sache für Albernheiten hält und
darüber zur Tagesordnung übergeht, der bleibe daheim. Er wird
nie mit Eingeborenen fertig werden.
Noch wunderlicher als manche ihrer Sitten mutet uns der Character der
Samoaner an. Mit unserem Maßstab gemessen, käme das intelligente,
freundliche, gastfreie und manierliche Volk herzlich schlecht weg. Mataafa
z.B., ein ehrwürdig aussehender Greis mit vornehmen und gewinnenden
Manieren, ein Häuptling der seinen Stammbaum von den Göttern
ableitet, macht sich kein Gewissen daraus, zu lügen. Als er einmal
in Geldverlegenheit war, versuchte er unter der Vorspiegelung, ich hätte
ihm seine Einkünfte erhöht, von dem Kassenvorsteher Geld zu erhalten.
Es kommt ihm auch nicht darauf an, heut das Wort zu brechen, das er gestern
unter den feierlichsten Beteuerungen gegeben. Eine weit verbreitete Unsitte,
der auch Mataafa gelegentlich huldigt, ist die Benutzung gefälschter
Briefe zum Schaden der Gegenpartei. -
Zum Eide werden die Samoaner überhaupt nicht zugelassen, weil
sie kein Verständnis dafür an den Tag legen. In den Angelegenheiten
ihrer eigenen Familie ist nach ihrer Moral die Lüge nicht nur gestattet
sondern unter Umständen einfach Pflicht. Dass der weisse Richter sich
für befangen hält, wenn er über Angehörige seiner eigenen
Familie zu richten hat und von dem Urteil zurücktritt, ist dem Samoaner
unverständlich! Der samoanische Richter muss seiner Familie con(te
que con(te zum Siege verhelfen, auch wenn er gegen seine richterliche Überzeugung
handelt. -
Unser alter Amtsdiener MEISAKE, der seit Zembsch’s Zeiten beim Konsulat
gewesen und als biederes Faktotum von Konsul zu Konsul vererbt und schliesslich
als selbstverständliches Inventarstück auf das Gouvernement übernommen
worden ist, eröffnete mir neulich, als ich ihm eine Gehaltserhöhung
abschlagen musste, dass er nunmehr nach Tutuila gehen würde, um in
amerikanische Dienste zu treten, er hätte die deutsche Knauserei satt.
- Ich nehme Mataafa nicht übel, wenn er mir etwas vorlügt, ich
betrachte ihn nicht als einen Betrüger oder Urkundenfälscher,
ich grolle auch den Samoanern nicht und bin nicht sittlich entrüstet,
wenn sie Meineide leisten und zerdrücke keine Träne über
die Treulosigkeit des alten MEISAKE. Ich führe das Alles an, um zu
illustrieren, dass die Samoaner anders denken und fühlen als wir,
dass sie deswegen anders behandelt werden müssen und vor Allem, dass
es eine Widersinnigkeit ist, unsere Strafgesetze und unser Strafverfahren
gegen sie anzuwenden. Auch hier heisst es im Einzelnen, schenkt dem Gouverneur
Vertrauen, lasst ihn Recht sprechen und bindet ihn nicht an das Schema
eines Prozessverfahrens, denn er kennt das Land und Volk und weiss, was
er zu tun und zu lassen hat. Ein taktvoller Gouverneur kann die Eingeborenen
ohne Gesetze regieren, ohne Takt kann man mit den besten Gesetzen gegen
die Samoaner Nichts ausrichten.
Was hier in der Hauptsache vom Strafrecht gesagt ist, gilt auch vom
Civilrecht. Das Gouvernement ist seit Jahren dabei, die Rechtsanschauungen
der Samoaner, die insbesondere für die Behandlung der Landfrage wichtig
sind, zu sammeln. Erst wenn diese Sammlung abgeschlossen vorliegt, kann
man mit Erfolg dazu schreiten, aus dem samoanischen und deutschen Rechtsmaterial
eine für die samoanischen Verhältnisse passende Gesetzgebung
zu schaffen. Damit hat es aber noch gute Weile. -
POLITISCHE VERWALTUNG UND DISTRIKTS-EINTEILUNG
Die weitverbreitete Vorstellung, dass Samoa jemals ein Königtum war, ist irrig. Daran kann auch die Tatsache nichts ändern, dass der verstorbene Malietoa King genannt wurde und einen Salut von 21 Schüssen erhielt. Das Samoanische Wort für King ist Tupu und Tupu ist nie gleichbedeutend gewesen mit „König" oder „King" nicht einmal in dem Sinne, wie man z.B. von King Bell spricht. Einen einheitlichen Herrscher über Samoa, so wie George Tubou über Tonga hat es nie gegeben. Es ist vorgekommen, dass die hohen Würden der Tui Atua, Tui Aana u.s.w. auf einen Häuptling gefallen sind, den man dann den Tupu nannte. Dieser Tupu hatte nie die Macht, Gesetze für ganz Samoa zu machen, oder sich in die Verwaltung der Distrikte oder der einzelnen Ortschaften einzumischen. Er hatte gewisse Ehrenrechte und den Anspruch auf Tribute von Schweinen und Matten. Seine Macht als Herrscher hing lediglich von seiner Persönlichkeit ab. Konnte er sich durchsetzen, dann war er Herrscher by his own right, ein Usurpator. Sonst war er abhängig von einer Anzahl von Sprechern, die in der nach-tonganischen Geschichte Samoas unter der Bezeichnung Tumua und Pule über sämtliche Samoa-Inseln mit Ausschluss Manua’s Kartell-Verbände gegründet hatten und bis in die neueste Zeit die hohen Würden (Pa#pa#) verteilten. So stand sich auch im Jahre 1898 nicht Malietoa Tanu und Tupua Mataafa gegenüber, sondern die Minorität von Tumua und Pule, die für Tanu, die Majorität von Tumua und Pule, die für Mataafa war! Die deutsche Regierung hat in diese Verhältnisse insofern eingegriffen, als zunächst der Tupu abgeschafft worden ist und Mataafa dafür den Titel „Alii Sili" (der grosse Häuptling) erhalten hat. Der nächste und schwierigste Schritt war die Abschaffung von Tumua und Pule im Herbst 1905 und die Einrichtung einer nur zweimal im Jahr tagenden Häuptlings-Versammlung. Auf diesem Wege der Decentralisation der samoanischen Selbstverwaltung muss fortgeschritten werden. Die nächste Massregel wird die Abschaffung des Postens des Alii Sili sein und das Verbot, die höchsten Würden, nämlich Tui Aana, Tui Atua und Malietoa von neuem zu verleihen. Der gegebene Zeitpunkt wird der Tod Mataafas sein. Ist dieser kritische Tag überstanden, dann kann man mit Zuversicht in die Zukunft schreiten. Der Todestag Mataafas wird aber ein kritischer Tag erster Ordnung sein.
Aus dem Decennialprogramm für Samoa von Gouverneur Dr. Wilhelm
Solf (1907)
BA: RKolA 4789
flußt vom bestimmenden Geist dieser Epoche. Ohnehin wäre
es historisch falsch, das deutsche Samoa in der Nachschau nur verklären
zu wollen. Solf legte mit seiner Politik auch den Grundstein für Entwicklungen,
die die letztendlich doch unausweichliche Auseinandersetzung mit der übrigen,
zunehmend verwestlichten Welt eher erschwerten. Man kann es drehen und
wenden wie man will: Die Zeit arbeitete gegen die Methode Solfs, und selbst
in Samoa mehrten sich die Anzeichen, daß die einheimische Jugend
anderen Vorstellungen anhing als dem von der deutschen Verwaltung im Verein
mit der traditionellen - und traditionalistischen - indigenen Elite propagierten
Weg.
Zum Kernbestand der von Solf Mitte August 1990 zugesicherten samoanischen
Selbstverwaltung gehörte die Befugnis der Samoaner, die inneren Angelegenheiten
selbständig zu regeln. Dies schloß die eigene Gerichtsbarkeit
ein. Zwar wurden die Befugnisse des zunächst noch amtierenden samoanischen
Oberrichters relativ früh eingegrenzt und das Amt schließlich
abgeschafft, bzw. nicht mehr besetzt - in den Augen der deutschen Verwaltung
waren seine Entscheidungen „geradezu haarsträubend ungerecht" -, aber
die faamasino blieben auf der Ebene der Bezirke bzw. Dorfschaften bis 1914
autonom. Dabei ist es eine typisch eurozentrische Sicht, wenn man die Tätigkeit
des samoanischen Richters als auf „Bagatellsachen" begrenzt abwertet. Zur
Entscheidungsgewalt des faamasino gehörten quantitativ wie qualitativ
die wesentlichen Streitsachen des samoanischen Alltags: Vergehen gegen
Standes- und Ordnungspflichten. Solange die von der deutschen Verwaltung
geduldete interne samoanische Schlichtung auch von den Samoanern selbst
akzeptiert wurde, blieb die Stellung des faamasino ebenso ungefährdet
wie die Autonomie der Samoaner überhaupt. Rückblickend muß
sogar gesagt werden, daß außerhalb Apias die Samoaner in einer
Stellung verblieben, die sich nur wenig von der vor Erklärung der
deutschen Schutzherrschaft unterschied. Der größte Eindruck,
den die deutsche Kolonial-verwaltung hinterließ, war die Herstellung
des allgemeinen Landfriedens und das erfolgreiche Verbot, den Krieg als
Mittel der samoanischen Innenpolitik einzusetzen. Abgesehen davon aber
änderte sich am bisherigen Alltagsleben der Samoaner nur wenig. Die
Einführung einer Kopfsteuer, unmittelbar nach Einsetzung der deutschen
Verwaltung, zunächst vier Mark pro Kopf der erwachsenen männlichen
Bevölkerung, später, auf Empfehlung von Williams, nach Kriterien
der samoanischen Oligarchie hierarchisch gegliedert und abgestuft (matai-Steuer
von 12 Mark seit 1903; acht, seit 1909 zehn Mark für taulelea) scheint
dem vordergründig zu widersprechen. Aber erstens war die Erhebung
von Steuern für die Samoaner nicht so neu wie sie erscheint, gab es
doch schon zur Zeit des Tridominiums und der Malietoa-Regierung eine Steuergesetzgebung.
Zum anderen hatten die jährlichen Sammlungen der verschiedenen Missionsgesellschaften
seit langem einen kontributiven Charakter. Außerdem trugen die Zusicherung
des Gouvernements, die Kopfsteuer ausschließlich für Zwecke
der samoanischen Selbstverwaltung einzusetzen und der jährliche Verwendungsnachweis,
der im Amtsblatt für die Samoaner, O Le Savali („der Bote"; gegründet
am 01.09.1905, monatliche Erscheinungsweise), abgedruckt wurde, zur Beruhigung
bei. Nebenbei bemerkt, wurde durch die Steuern der einheimischen Bevölkerung
Samoa auch in finanzieller Hinsicht autonom.
Die Repräsentanten der samoanischen Selbstverwaltung schienen
in vielem als samoanische Entsprechung der deutschen Beamten. Vom Gouverneur
auf die deutsche Fahne mit einem Treue- und Gehorsamseid verpflichtet,
erhielten sie nach ihrer Ernennung eine Anstellungsurkunde und selbstverständlich
auch ein monatliches Gehalt. Dazu kamen finanzielle und andere Vergünstigungen,
die ebenfalls an einen bevorzugten Beamtenstatus erinnern. Der höchste
samoanische Beamte war Mata’afa, von Solf mit dem bislang unbekannten Titel
Ali’i Sili, („Hoher Häuptling") versehen. Ob Mata’afa tatsächlich
nur eine zeremonielle Vorrangstellung zukam, wie es die deutsche Sicht
im Anschluß an Solfs Intentionen unterstellt und ein Teil der Mata’afa-feindlichen
samoanischen Beobachter heute behauptet, scheint fraglich. Der Träger
des Malietoa-Titels kehrte 1902 nach Samoa zurück und im Anschluß
an den Tod Mata’afas (06.02.1912) wurde der Titel eines Ali’i Sili nicht
mehr vergeben, statt dessen im Juli 1913 die höchsten Repräsentanten
der Tamasese- und Malietoa-Linien zu gleichberechtigten Fautua, obersten
samoanischen Ratgebern des Gouverneurs, ernannt.
Während die eigentliche samoanische Lokalverwaltung mit Pulenuu
(Orstvorsteher) und Leoleo (Dorfgendarm) vom Gouvernement gestärkt
wurde, betrachtete Solf die samoanische Bezirksverwaltung als eine Gefährdung
seiner eigenen und der deutschen Stellung von Anfang an mit Mißtrauen.
Eine Verfehlung des samoanischen Häuptlings Uo gab dem Gouverneur
die Gelegenheit, auf einer Versammlung samoanischer Bezirkshäuptlinge
am 14. August 1905 in Anwesenheit der Offiziere des Condor die Taitai itu,
die Bezirkshäuptlinge, abzuschaffen und vor allem die Organisation
der Tumua und Pule, eine Art ständig tagender samoanische Ratsversammlung,
aufzulösen. Als Ersatz schuf Solf 27 Faipule. Auch sie waren Mitglieder
der samoanischen Oligarchie und sollten die 14 Bezirke Samoas repräsentieren.
Sie wurden aber vom Gouverneur ernannt und nur noch zweimal im Jahr (einmal
im Frühjahr zur Zeit des Kaisergeburtstages, das andere Mal im Sommer)
zu mehrtägigen Ratsversammlungen (fono) nach Mulinu’u, dem alten Sitz
der samoanischen Regierung, gerufen. Sie traten im Januar 1906 zum ersten
Mal zusammen.
Die samoanische Opposition gegen die deutsche Kolonialverwaltung und
speziell gegen Gouverneur Solf ist bislang ebenso überbewertet worden
wie die europäische. Eine Handvoll samoanischer Häuptlinge wurde,
wie dies Uo Ende 1905 erfahren mußte, vom Gouverneur in die Verbannung
geschickt - vorzugsweise in den Bismarckarchipel. Dort galten sie als „politische
Gefangene" mit besonderem Status. Ihre Frauen und engsten Verwandten durften
sie mitnehmen. Die innersamoanische Verbannung, bis dato weithin praktiziert
und ein besonders bevorzugtes Instrument der samoanischen Bürgerkriegszeit,
hatte Solf schon 1901 unter Strafe gestellt.
Die Verschwörung des Sprecherhäuptlings Lauati Namulauulu
aus Fa’asaleleaga in Savai’i im Jahre 1909 gilt allgemein als größte
Bedrohung der deutschen Kolonialverwaltung Samoas. Es wäre jedoch
falsch, Lauati historisch als ersten samoanischen Nationalhelden einordnen
zu wollen. Trotz oder wegen seiner großen rhetorischen Begabung blieb
Lauati doch in seinen Vorstellungen tief in der Vergangenheit verwurzelt.
In den wenigen Zeugnissen, die wirklich über seine eigenen Motive
näher Auskunft geben, erscheint er als ein die Vergangenheit verklärender
überzeugter Reaktionär, unfähig, seine Vorstellungen an
die veränderten Verhältnisse anzupassen - ein samoanischer Michael
Kohlhaas vielleicht, aber sicher kein nationaler Volksheld à la
Nelson Mandela oder Jomo Kenyatta. Zu tatsächlichen gewalttätigen
Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Samoanern ist es auch unter
Lauati nicht gekommen. Die von Amtmann Williams in die Verbannung nach
Saipan geleitete Gruppe samoanischer Häuptlinge und ihrer engsten
Familienangehörigen (insgesamt 39 Männer und 26 Frauen) sollte
1914 wieder nach Samoa zurück, nachdem alle Häuptlinge außer
Lauati selbst begnadigt worden waren. Der Ausbruch des Krieges verhinderte
die Ausführung der Begnadigungsvollmacht. Eine nach der britischen
Besetzung möglich erscheinende Rückkehr wurde durch Krankheiten
vereitelt. Bis auf den jüngsten, I’iga Pisa, sollte keiner der verbannten
Häuptlinge Samoa jemals wiedersehen.
Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß die
zeitweilige Unruhe, die durch die Flucht des samoanischen Raubmörders
Sitivi aus dem Gefängnis im Mai 1906 hervorgerufen wurde, und der
von Sitivi an einem deutschen Pflanzer begangene Mord keineswegs als politische
Widerstandstat bewertet werden können. Sitivi war ein gewöhnlicher,
wenn auch besonders gefährlicher Krimineller, und die Tatsache, daß
er von seiner heimatlichen Dorfschaft verborgen gehalten wurde, kann nur
der als Beleg für antikolonialen Widerstand ansehen, der von dem dadurch
zum Ausdruck gebrachten charakteristischen indigenen Verhaltensweisen keine
Ahnung hat. Sitivi wurde am 10. Juni 1906 von zwei Samoanern erschossen.
Ähnliches läßt sich vom Amoklauf von vier ehemaligen
samoanischen Polizisten im Frühjahr 1914 sagen, dem die Pflanzer Treviranus
und Schlitt zum Opfer fielen. Auch hier setzte die von der Verwaltung bewaffnete
samoanische Zivilbevölkerung dem Treiben ein Ende. Die fita fita,
die samoanische Gouvernementspolizei, ohnehin bislang eher mit zeremoniellen
als wirklichen Polizeiaufgaben betraut, wurde daraufhin aufgelöst.
Die an Äußerlichkeiten hängenden Samoaner finden am
Soldatenspiel Gefallen, empfinden den Dienst in der Truppe als Ehre u.
betrachten sich als deutsche Soldaten. Die Truppe erfreut sich großer
Beliebtheit bei den Eingeborenen, u. lassen sich besonders die Häuptlingssöhne
in dieselbe aufnehmen. Hieraus ergiebt sich ein wichtiges Mittel, die heranwachsenden
Eingeborenen mit dem Deutschen vertraut zu machen u. sie an Disziplin u.
Pflichterfüllung zu gewöhnen.
Konzept des Reichskolonialamtes vom 20.01.1909 für den Reichstag
BA: RKolA 2673